Wenn das eigene Gewissen mit zwingenden Vorschriften kollidiert, steht eine erst Abwägung, dann eine Entscheidung an. Die Konsequenzen daraus spürt man manchmal Jahrzehnte später noch.
In einem dreiteiligen Tweet berichtete Victoria über ihre Gewissenskonflikte als Referendarin bei der Staatsanwaltschaft:
„#Jurabubble Ich habe ein großes Problem mit der Staatsanwaltschaftsstation im Referendariat. Ich habe ein Problem mit dieser normalisierten Kriminalisierung von Armut. Ich muss in meiner Sitzungsvertretung dafür plädieren, dass Menschen, die aus Verzweiflung klauen, ins Gefängnis müssen, dass Menschen, die sich kein Bahnticket leisten können addiert 120 Tagessätze zahlen (und dann vielmehr eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen müssen), dass einer Mutter ihr Kinderwagen als Tatmittel eingezogen wird, weil sie damit Windeln aus dem Supermarkt geschmuggelt hat. Was für eine Menschenverachtung wohnt dieser Behörde bitte inne? #howtosurvivereferendariat„
Eine Geschichte aus dem Leben eines Strafverteidigers.
Der Thread von Victoria erinnert mich an einen Fall, in dem ich mich als Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft geweigert hatte, die Anklage zu verlesen. Ich hatte vergleichbare Problem mit dem Job, den ich machen musste, um mein Ziel – die „Befähigung zum Rechtsanwalt“ – zu erreichen.
Bereits schon vor und erst Recht während des Studiums war mir dieses Strafrecht zuwider. Ich kam aber nicht drumrum, mich damit auseinander setzen zu müssen.
Irgendwann musste ich mir als Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft eine gammelige Robe überwerfen und Anklagen verlesen, die andere Staatsanwälte geschrieben hatten. Noch schwerer gefallen sind mir die Anträge, Angeklagte zu einer Geld- oder Freiheitsstrafe zu verurteilen, weil sie aus vielfältigen Gründen gegen Spielregeln verstoßen hatten, die nicht für sie gemacht waren.
Reißleine
In einem Fall habe ich die Reißleine gezogen – auch als Beamter auf Widerruf, der ich damals war, habe ich mein Gewissen (Art. 4 Abs. 1 GG) nicht auf der Geschäftsstelle der Staatsanwaltschaft abgegeben.
In der Akte, die ich am (Nachmit-)Tag vor dem Hauptverhandlungstermin bekommen hatte, ging es um den klassischen „Dreisprung“: Widerstand (§ 113 StGB), Körperverletzung (§ 223 StGB) und Beleidigung (§ 185 StGB) zulasten von Bundespolizisten. Und der § 29 BtMG spielte hier auch noch eine Rolle.
Angeklagt war ein mehrfach vorbestrafter, schwer drogenkranker junger Mann. 27 Jahre und ein geschätztes Gewicht von deutlich unter 60 kg, der bereits in einer anderen Sache eine Freitsstrafe verbüßte. Er musste seinen Betäubungsmittelkonsum finanzieren, Diebstahl, Einbruch, Schwarzfahrten … .
Sein Verteidiger hatte gemeinsam mit den Sozialarbeitern der JVA bereits einen Therapieplatz organisiert. Er wurde vorzeitig aus der Haft entlassen und sollte direkt aus dem Knast in eine Therapieeinrichtung gehen.
Der Absturz
Dort angekommen eröffnete man ihm, dass versehentlich der für ihn reservierte Platz anderweitig vergeben wurde. Es solle sich in vier oder sechs Wochen nochmal melden …
Obdach- und hoffnungslos hat er sich mit dem ihm bekannten Mitteln „behandelt“ und die Freiheit dazu genutzt, seinen Frust und Durst mit Alkohol zu löschen. Irgendwann ist er im Bahnhof Zoo angekommen, hat sich dort auf eine Bank gesetzt und ist eingeschlafen.
Geweckt wurde er von drei (!) Bundespolizeibeamten, allesamt vom Kaliber „Siggi Zweimalzweimeter“, durchtrainiert, mit Armen wie anderer Leute Oberschenkel. In der ihnen eigenen Art haben sie den Angeklagten geweckt.
Mit reichlich Dope und Alk im Kopf hat das 50 kg schwere Wrack ein wenig gezappelt und dummes Zeug geschwätzt. Das ganze Theaterstück war dann in die formvollende Anklageschrift gegossen wurden, die ich vorlesen sollte.
Ich hatte zudem die Anweisung in der Akte, für diese Straftat eine unbedingte Freiheitsstrafe zu beantragen. Weil der Angeklagte ja unbelehrbar sei, las ich in dem Vermerk, sei eine Freiheitsstrafe unverzichtbar.
Widerstand gegen die Staatsanwaltschaft
Als ich erst diesen Sachverhalt, dann die Anklage und schließlich die Anweisung meiner Ausbilderin gelesen hatte, leuchteten die roten Lampen. Beamtenverhältnis und Dienstpflichten hin oder her – hier war für mich die Grenze erreicht.
Ich bin vor Aufruf der Sache zu dem RIchter gegangen und habe ihm mitgeteilt, dass ich diese Anklage nicht verlesen werde. Ich werde mich nicht daran beteiligen, diesen bedauernswerten Menschen für etwas zu sanktionieren, für das er nicht verantwortlich ist.
Das hat es wohl in Moabit noch nicht gegeben: Ein Referendar revoltiert!
Weder war meine Ausbilderin – wie immer alle Ausbilder während einer Sitzungsvertretung – erreichbar, noch der für die Anklage zuständige Dezernent. Die Verhandlung drohte zu platzen.
Der Richter versuchte es erst mit gutem Zureden („…warten Sie doch erstmal die Beweisaufnahme ab.“), dann mit Drohungen (Disziplinarmaßnahmen, Kosten des Termins …) und zuletzt noch mit der Vorhersage meiner Stationsbenotung.
Das war mir alles wurscht, ich hatte eine Gewissenentscheidung getroffen und bin dabei geblieben.
Die Lösung
Der erfahrene Verteidiger hatte die Zwischenzeit genutzt, um im Anwaltszimmer (per Münzfernsprecher!) zu telefonieren. Irgendwann kam er wieder zurück in den Saal, zerschnitt die dort knisternde Luft und verkündete eine Konfliktlösung:
Er hatte die Zusage einer (anderen) Therapieeinrichtung, den Angeklagten am selben Tag noch aufzunehmen. Ich solle die Anklage verlesen, sein Mandant werde sich den Vorwürfen nicht entgegen stellen und das Gericht schickt ihn nicht zurück in den Knast, sondern via § 35 BtMG in die Therapie.
Das war dann die Lösung meines Gewissenskonflikts. Der Junge bekam seine ihm zustehende Behandlung statt einer weiteren sinnlosen Freiheitsstrafe. Mir wurde später dann noch irgendwas Sinn- und Belangloses in meine Personalakte geschrieben. Das war’s dann.
Erfahrung
Für mich war das eine ganz entscheidende und prägende Erfahrung. Bis zu diesem Tag habe ich immer wieder den Druck gespürt und mich dem gebeugt, den dieses System im Studium beginnend, weiter und zunehmend im Referendariat aufgebaut hatte. Hier habe ich gemerkt, dass ich innerhalb dieses Systems Rechte hatte, die ich nutzen und durchsetzen konnte. Ich habe gelernt, dass es möglich ist, effektiven Widerstand zu leisten, wenn dieser aufgrund eigener Überzeugungen notwendig wird.
Ich weiß nicht, glaube es aber auch nicht, dass mir diese Aktion im Rahmen meiner Ausbildung geschadet hätte. Und wenn doch, wäre es durch das Ergebnis gerechtfertigt gewesen.
Conclusio
Liebe Victoria, liebe Auszubildende, das Leben besteht aus Kompromissen, wir müssen immer wieder irgendwelche Kröten schlucken. Es gibt aber rote Linien, die wir nicht überschreiten dürfen, wenn wir uns morgens im Spiegel noch in die Augen schauen wollen.
Dann überlebt man selbst die Station bei der Staatsanwaltschaft. Und wenn ich das geschafft habe, dann schafft Ihr das erst Recht. 😉
PS:
Wie ich dann doch noch zum Strafrecht gekommen bin, und warum der Beruf des Strafverteidigers der beste Job der Welt ist, erzähle ich dann später irgendwann einmal …