Dauerwellen sind überlebenswichtig. Oder Shize auf das Leben, Hauptsache die Frisur sitzt.
Leni ist stattliche 93 Jahre alt. Mit ihren altersbedingten Einschränkungen ist sie fit und lebt allein in ihrer top gepflegten Zweizimmerwohnung.
Wir telefonieren unregelmäßig, mal rufe ich an – meist nachmittags, mal erreicht Leni mich morgens früh um halb acht noch beim Wachwerden. Ein freundschaftliches Verhältnis, das sich nach dem Tod ihres Partner verfestigt hat.
Am Wochenende rief Leni mich an. Ihre Schwester Klara sei gestorben, kurz nach ihrem 89. Geburtstag.
Klara lebte sei einigen Jahren schon in einem Seniorenheim und zwar gern. Sie hatte dort alles, was sie brauchte und war zufrieden.
Jetzt hatte sich Klara mit Corona infiziert. Zwei Wochen war sie krank. Dann war sie tot.
Leni berichtete davon, dass das Personal des Seniorenheims es nicht so genau genommen haben soll mit den Masken. Klara habe ihr davon berichtet, dass die Mitarbeiter des Heims sehr oft ohne den Mund-Nase-Schutz herumliefen. Aber Klara habe sich nicht mehr durchsetzen können.
Wir haben noch eine ganze Weile miteinander gesprochen; gegen Ende des Telefonats war Leni nicht mehr ganz so traurig.
Als wir uns verabschieden wollten, frage Leni mich:
Carsten, sag mal, ist unter Deinen Mandanten nicht ein Frisör? Der mal heimlich zu mir kommen könnte, um mir die Dauerwelle zu machen? Ich seh‘ schrecklich aus.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass meine Standpauke zum Thema „Lebensgefährliches Ansteckungsrisiko versus Frisurentrends der 1920er“ genau dort angekommen ist, wo sie ankommen sollte.
Und ich habe gelernt, dass zur Würde eines alten Menschen auch eine anständige Frisur gehört. Selbst dann, wenn nur noch Besuch vom Pflegedienst kommt, der beim Kochen, Aufräumen und Einkaufen hilft.